Wie ich zu Stefan Zweig fand…

 

VOR DER MORGENRÖTE erzählt episodisch aus dem Leben des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig im Exil. Die Geschichte eines Flüchtlings, die Geschichte vom Verlieren der alten und dem Suchen nach einer neuen Heimat.

Rio de Janeiro, Buenos Aires, New York, Petrópolis sind vier Stationen im Exil von Stefan Zweig, die ihn trotz sicherer Zuflucht, gastfreundlicher Aufnahme und überwältigender tropischer Natur keinen Frieden finden lassen und ihm die Heimat nicht ersetzen können. Ein bildgewaltiger historischer Film über einen großen Künstler und dabei ein Film über die Zeit, in der Europa auf der Flucht war.

http://www.vordermorgenroete.x-verleih.de/de/info/

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig ist für die meisten von uns einer dieser „Unterrichtsautoren“, Schriftsteller, mit denen wir nicht ganz freiwillig in „Erstkontakt“ getreten sind, die uns per Lehrplan verordnet wurden. Bei mir war es eine Leseempfehlung meines Bruders, der Zweigs „Schachnovelle“ im Deutschunterricht behandelte und an mich weiter reichte. Ein Buch über das Schachspielen von meinem ziemlich gut Schach spielenden Bruder an seine gerade mal Bauer von der Dame unterscheiden könnende Schwester… 🙂

Nein, das Buch ist nicht in hohem Bogen aus dem Fenster geflogen. Warum auch immer, vielleicht war ich an diesem Tag besonders milde gestimmt, ich hab’s gelesen und weitere folgten.

Zweig gelingt es nämlich virtuos durch die literarische Kunst der Verknappung den Leser fast atemlos das Schicksal des Protagonisten Dr. Bs. verfolgen zu lassen. Jener kluge, gebildete junge Mann aus gutem Hause wird von den Nazis gefoltert und in Isolationshaft genommen. Um dies zu überleben flüchtet er in die Welt des Schachs, spaltet seine Persönlichkeit, spielt Tausende von Partien gegen seine zwei „Schach-Ichs“ und verfällt schließlich dem Wahn. Als er frei gelassen wird, schwört sich nie wieder Schach zu spielen. Auf seiner Schifffahrt ins argentinische Exil trifft er auf den Weltmeister Mirko Czentovic, einen ungebildeten und geistlosen Schifferssohn, der zum geldgierigen und machthungrigen Schachspieler aufgestiegen ist, und tritt gegen ihn an, um zu überprüfen, ob er in der Realität überhaupt Schach spielen kann.
Symbolisch steht dabei das Duell von Dr. B. gegen Czentovic für den Kampf zwischen der Welt der Kultur und des Geistes gegen den Nationalsozialismus.

Zweig kam aus großbürgerlich-jüdischer Familie, ist am 28. November 1881 in Wien geboren und studierte dort und Berlin Philosophie, Germanistik und Romanistik. 1904 promovierte er zum Dr. phil. und bereiste Europa, Amerika, Afrika und Indien. Bis 1933 lebte er mit seiner Frau Frederike in Salzburg, welches er wenige Tage nach einer polizeilichen Hausdurchsuchung Richtung London verließ. Dies ist markierte den Beginn seiner persönlichen Odysee, die am 23. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien, in einem gemeinsamen Selbstmord mit seiner zweiten Frau Lotte ein trauriges Ende fand.

Sein Freitod fand Widerhall bei den anderen Exilanten. So schreibt Carl Zuckmayer:

„In den Kreisen der Emigration hatte Stefan Zweigs freiwilliger Tod eine ungeheure Bestürzung hervorgerufen. … Wenn er, dem alle Möglichkeiten offenstanden, das Weiterleben für sinnlos hält – was bleibt dann denen noch übrig, die um ein Stück Brot kämpfen? … [Er gehörte] zu den Begünstigten unter uns. Zu den Vereinzelten, die einen internationalen Leserkreis, einen Widerhall für ihr Werk, eine ständige Anerkennung hatten. Zu den Wenigen, die schon eine neue Nationalität, einen gültigen Paß, eine Art von Sicherheit besaßen. Er hatte keine materiellen Sorgen, er konnte sein Leben einrichten, wie er wollte.“

(Carl Zuckmayer, „Did you know Stefan Zweig?„, in: Der große Europäer Stefan Zweig, Hrsg. Hanns Arens, Fischer Taschenbuch 1981, S. 133-134).

Mein Zweigscher Erstling die „Schachnovelle“ ist 1941 also während jener im Film thematisierten Zeit im Exil entstanden. Hier ein kleiner Auszug:

Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in den Fachkreisen viel beobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic brachte es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäß sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er mußte immer das schwarz-weiße Karree mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren handgreiflich vor sich haben; noch zur Zeit seines Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit sich, um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginativer Kraft und wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren. Aber diese merkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos stupenden Aufstieg. Mit siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich die ungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft erobert. Die verwegensten Champions, jeder einzelne an intellektueller Begabung, an Phantasie und Kühnheit ihm unermeßlich überlegen, erlagen ebenso seiner zähen und kalten Logik wie Napoleon dem schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal dem Fabius Cunctator, von dem Livius berichtet, daß er gleichfalls in seiner Kindheit derart auffällige Züge von Phlegma und Imbezillität gezeigt habe. So geschah es, daß in die illustre Galerie der Schachmeister, die in ihren Reihen die verschiedensten Typen intellektueller Überlegenheit vereinigt, Philosophen, Mathematiker, kalkulierende, imaginierende und oft schöpferische Naturen, zum erstenmal ein völliger Outsider der geistigen Welt einbrach, ein schwerer, maulfauler Bauernbursche, aus dem auch nur ein einziges publizistisch brauchbares Wort herauszulocken selbst den gerissensten Journalisten nie gelang. Freilich, was Czentovic den Zeitungen an geschliffenen Sentenzen vorenthielt, ersetzte er bald reichlich durch Anekdoten über seine Person. Denn rettungslos wurde mit der Sekunde, da er vom Schachbrette aufstand, wo er Meister ohnegleichen war, Czentovic zu einer grotesken und beinahe komischen Figur; trotz seines feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte mit der etwas aufdringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürten Finger blieb er in seinem Gehaben und seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stube des Pfarrers gefegt. Ungeschickt und geradezu schamlos plump suchte er zum Gaudium und zum Ärger seiner Fachkollegen aus seiner Begabung und seinem Ruhm mit einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgier herauszuholen, was an Geld herauszuholen war. Er reiste von Stadt zu Stadt, immer in den billigsten Hotels wohnend, er spielte in den kläglichsten Vereinen, sofern man ihm sein Honorar bewilligte, er ließ sich abbilden auf Seifenreklamen und verkaufte sogar, ohne auf den Spott seiner Konkurrenten zu achten, die genau wußten, daß er nicht imstande war, drei Sätze richtig zu schreiben, seinen Namen für eine ›Philosophie des Schachs‹, die in Wirklichkeit ein kleiner galizischer Student für den geschäftstüchtigen Verleger geschrieben. Wie allen zähen Naturen fehlte ihm jeder Sinn für das Lächerliche; seit seinem Siege im Weltturnier hielt er sich für den wichtigsten Mann der Welt, und das Bewußtsein, all diese gescheiten, Intellektuellen, blendenden Sprecher und Schreiber auf ihrem eigenen Feld geschlagen zu haben, und vor allem die handgreifliche Tatsache, mehr als sie zu verdienen, verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit in einen kalten und meist plump zur Schau getragenen Stolz.

»Aber wie sollte ein so rascher Ruhm nicht einen so leeren Kopf beduseln?« schloß mein Freund, der mir gerade einige klassische Proben von Czentovics kindischer Präpotenz anvertraut hatte. »Wie sollte ein einundzwanzigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Eitelkeitskoller kriegen, wenn er plötzlich mit ein bißchen Figurenherumschieben auf einem Holzbrett in einer Woche mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit Holzfällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzen Jahr? Und dann, ist es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen großen Menschen zu halten, wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, daß ein Rembrandt, ein Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebt haben? Dieser Bursche weiß in seinem vermauerten Gehirn nur das eine, daß er seit Monaten nicht eine einzige Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt, daß es außer Schach und Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat er allen Grund, von sich begeistert zu sein.«

aus Kap. 2: http://gutenberg.spiegel.de/buch/schachnovelle-7318/2

 

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