Mit Jahre später, legt Angelika Klüssendorf nun den dritten Band des Romanzyklus um das Mädchen April vor. Aufgewachsen im vom Regime stets geleugneten und doch vorhandenem Prekariat der ehemaligen DDR, malträtiert von einem trinkenden Vater, vom Staat „gerettet“ und in einem lieblosen Kinderheim zur Umerziehung verwahrt, um sch als junge Erwachsene mit Aushilfsjob über Wasser zu halten. Was sie am tristen Leben hält, ihre Einsamkeit erträglich macht, ist ihre Fähigkeit sich bei Bedarf in ihre Phantasiewelt zurückzuziehen, sich dort auszuruhen, Kraft zu sammeln für den täglichen Kampf mit der äußeren & inneren Welt. Aprils großer Traum seit ist diese Welt zu Papier zu bringen, Schriftstellerin zu sein.
Dieser dritte Band nimmt den Erzählfaden nach Das Mädchen (2011) und April (2014) kurz vor dem Mauerfall 1989 wieder auf. Aus dem Mädchen ist zumindest äußerlich eine junge Frau geworden, eine Exilantin, aus der alten Heimat in den Westen ausgereist, alleinerziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes und eine Autorin kurz vor der Veröffentlichung ihres Debuts, als sie bei einer Autorenlesung in Hamburg den erfolgreichen Chirugen Ludwig kennenlernt. Ein Mann, ein Wessi, sich seiner selbst bewusst, der nicht zaudert & zweifelt, ein Entscheider, ein Macher. Auf eine teenagerhafte Phase der Verliebtheit, die für beide die Welt kitschig rosarot einfärbt, folgen ganz bald: Hochzeit, Jugendstilvilla & das „wahre“ Mutterglück. Und während der Herr Doktor wieder ganz erwachsen im sterilen Operationssaal seziert, tranchiert das gerettete Weibchen den sonntäglichen Braten am heimischen Herd. Das dieses Konstrukt aus den 50ern nicht lange gutgehen kann, ist jedem Leser klar. Nur das Paar, diese zwei so klugen Menschen, will das nicht sehen & spinnt einen wohlig warmen Kokon aus Lügen ums persönliche Scheitern, weil die Wahrheit für beide keine Option ist.
Doch kann es wirklich auf Dauer, um mit Adorno zu sprechen, ein richtiges Leben in einem falschen geben? Nein, nicht für April, diese verletzte, wütende, kämpferische Seele & so kommt es zur Trennung und damit findet April endlich ihre literarische Stimme. Der erste Satz ihres Roman entspricht dem ersten Satz aus Klüssendorfs ersten Band des Romanzyklus um April.
Wer nun weiß, dass die Autorin Klüssendorf und ihre Protagonistin April sich nicht nur den ersten Satz ihrer Romane teilen, sondern ihre Lebensläufe weitere Gemeinsamkeiten haben: die prekäre Herkunft aus der ehemaligen DDR & der soziale Aufstieg im Westen über die fünfzehnjährige Ehe mit dem verstorbenen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher.
Ist Jahre später also ein Schlüsselroman über ein bildungsbürgerliches Glamourpaar? Ich habe es nicht so gelesen, dazu verweist die Autorin zu sehr auf die Konstruiertheit ihres Plots. Für mich ist es ein sehr lesenswerter Entwicklungsroman aus der Perspektive einer Kämpferin. Besonders nachhaltig beeindruckt hat mich vor allem Klüssendorfs Vermögen der sprachliche Reduktion, mit der sie mit chirugischer Präzision Handlung wie Emotion abbildet. Ich habe selten so viel erzählerische Spannweite in so knappen Sätzen erlebt.
Angelika Klüssendorf: Jahre später. Kiepenheuer & Witsch, 2018