Der neue Varga: „Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch“

Ich hatte nie eine Dalidruck im Wohnzimmer hängen.

Keine fließenden Uhren über’m Sofa. Dann schon lieber Jackson Pollocks Drip Painting, das der sich von einem anderen Surrealisten, Max Ernst, abgeguckt hatte. Mit der Kunstform des „sich über die Realität Stellens“ des Surrealismus, konnte ich nie viel anfangen.

Nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Assoziationsketten, Horoskope oder Siegmund Freud, aber doch bitte mit ein wenig kritischer Distanz, mit einem ironischem Augenzwinkern.

Warum ich das hier erwähne? Weil das möglicherweise erklärt, warum der bei seinen Fans heiß geliebte neuste Vargas, der Kriminalroman Der Zorn der Einsiedlerin der französischen Bestsellerautorin Fred Vargas, eigentlich Frédérique Audoin-Rouzeau, mich nicht so wirklich für sich gewinnen konnte.

Jene „La formule magique de Vargas“ (Le Monde) ist das Alleinstellungsmerkmal, das ihr die vor allem die weiblichen Leserinnen in Scharen an die Verkaufstische treibt. Der Genresmix aus „roman policier“ mit ein bisschen Fantasy, ein bisschen History & ganz viel Mystik spricht viele an, mir fehlt dazu, dass ausreichende Maß an Bauchgefühl.

Der neue Roman gehört zu einer Reihe um den Helden, Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg, Chef im Dezernat für Gewaltverbrechen der Pariser Polizei, der 1991 die literarische Bühne in Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord (l’Homme aux cercles bleus) erblickte. Adamsberg ist ein verschrobener und starrsinniger Kerl aus dem Béarn, ein Gebiet am Fuße der französischen Pyrenäen, der zusammen mit seinem charakterlich nicht minder eindrucksvollem Team, das von Fall zu Fall anwächst, aber den Lesern immer auch ein Wiedersehen mit schon bekannten & lieb gewonnen Gesichtern ermöglicht, ermittelt.

Als da wären:

Sein Landsmann & Freund von Kindesbeinen an: Lieutnant Veyrenc, der in Alexandrinen spricht, ein in der frz. Literatur entwickeltes Versmaß, das 12 Silben bei männlicher & 12 Silben bei weiblicher Kadenz zählt. Er teilt mit seinem Vorgesetzter den für die Region typischen Starrsinn, den schon Alexandre Dumas Helden d’Artagnan auszeichnete & auf der Landesflagge sehr passend durch 2 Ochsen dargestellt wird.

Dann gibt es den weinseligen Commandant Danglar, Adamsbergs Stellvertreter, der Sherlock Homes im Team, dessen Gehirn die Speicherkapazität von gefühlten Mio. Petabytes hat, also das ganze Gegenteil seines Chefs, der ungefragt mit Zitaten aus Philosophie & Literatur nur so um sich wirft.

Ein weiteres Unikum ist Lieutnant Voisenet, Experte für Ichtyologie. Vervollständigt wird das Ganze von der Mutter der Kompanie, die göttinnnengleiche Retancourt, ein Riefenstahl Pin-up Girl, das stets mit Eßbarem die Stimmung zu heben versucht.

Eigentlich klingt das ganz nach meinem Geschmack. Ich mag ungewöhnliche, verschrobene, sogar mehr oder minder unsympathische Ermittler von Herkules Poirot bis Backström, aber ein ganzer Käfig voller Sonderbegabter? Da rebelliert mein inneres Realitätsabgleichsystem.

Für den 9. Fall bricht Jean-Baptiste Adamsberg seinen Urlaub auf der isländischen Insel Grimsey ab, um sein Team bei der Aufklärung eines Frauenmordes zu unterstützen. Etwas unmotiviert kehrt er nach Paris zurück & macht sich an die Arbeit. Und so dauert es nicht lange bis sein Interesse auf einen Vorkommnis in Südfrankreich, in der Nähe von Nîmes, gelenkt wird, wo mehrere Männer vermeintlich durch den Biss der eigentlich scheuen, wenig angriffslustigen Loxosceles reclusa, der braunen Einsiedlerspinne, vergiftet wurden. Was äußerst mysteriös ist, denn dieses besondere Spinnenexemplar lebt eigentlich sehr zurückgezogen. Um einen einzelnen Mann zu Tode zu bringen, bedürfte es eine größere Anzahl dieser Spinnen, die sich dazu dann noch absprechen müssten, alle gleichzeitig zuzustechen. Mit naheliegende Erklärungsversuchen wie Mutationen durch den Einfluss des Klimawandels muss man dem Mann mit dem Hang zum Surrealen nicht kommen, Adamsberg wäre kein Schöpfung aus der märchenhaften Vargas Welt, gäbe er sich mit der erst besten, rationalen Erklärung zufrieden.

Er der ‚Hans guck in die Luft‘ unter den Kommissaren, ein Detailversessener, für den das Verrennen Teil des Weges ist, der wenn er erst einmal die Fährte aufgenommen hat, wie ein Trüffelschwein seiner Intuition folgt, dass muss auch Danglar ertragen. Bei einen Arachnologen, einem Spinnenspezialisten, lernt er zufällig eine nette, ältere Dame kennen mit besonderem Interesse an jener Einsiedlerin kennen, Madame Irène Royer-Ramier, in deren Netz aus Andeutungen er sich sofort verfängt & so folgt, er der Spur aus Andeutungen & Geschichten bis in ein ehemaliges Waisenhaus, in dem in in den 1940er & 50er eine Gruppe Jungen mit Giftspinnengift terrorisierte.

Vargas bedient sich wieder einmal mehr am Gruselfundus der mittelalterlichen Volkssagen, diesmal über den Brauch lebendige Menschen einzumauern. Der Originaltitel des Romans lautet auf französisch Quand sort la recluse & Vargas, die von sich sagt, sie sei besessen von Worten, ihrer Entymologie, hat ihn sehr bewusst gewählt. „La recluse“ meint einerseits die Einsiedlerspinne, aber auch die menschliche Einsiedlerin. Es gibt nachgewiesene Fälle von sogen. mehr oder minder freiwilligen Bauopfern, z.B. Nonnen, die beim Bau eines Klosters eingemauert wurden, aber auch als Strafmaßnahme für z.B. vermeintliche Ehebrecherinnen. wurden menschliche Einsiedlerinnen bei lebendigen Leib eingemauert. Mit einer Anklage gegen Gewalt gegen Frauen damals wie heute führt Vargas ihre Geschichte letztendlich zusammen.

aus  „Die Gesänge des Maldoror“ 6. Gesang, 3. Strophe von Comte de Lautréamont Pseudonym für Isidore Lucien Ducasse (1846-1870)

Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin. Limes Verlag. München 2018

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