Wir Ausgestoßenen..

Die kaum 2 Kilometer lange Insel Själö, schwedisch für Insel der Seehunde, liegt nicht weit entfernt von der finnischen Stadt Turku und wurde 1619 per Dekret von König Gustav Adolph von Schweden als Aufenthaltsort für die aussätzigen Leprakranken der Stadt bestimmt, u.a. weil die Insel über Buchten zum Ankern verfügt & einen Sandplatz als Begräbnisstätte.

Der letzte Leprakranke verließ das dortige Krankenhaus 1785, doch schon bald folgten andere. Von der Gesellschaft Ausgestoßene, Geisteskranke, Kriminelle, Nicht-mehr-Gewollte, Verwirrte oder einfach nur Arme. Själö wurde für sie Gefängnis, Zufluchtsort oder Heimat, auf jeden Fall ein fast geschlossenes Universum, denn ein Zurück in ihr altes Leben war für die Patientinnen nicht vorgesehen.

Johanna Holmströms neuer Roman Själö (im Original: Själarnas ö, Insel der Seelen) erzählt die Lebensgeschichte dreier Frauen, von zwei Patientinnen & einer Krankenschwester, die Jahrzehnte ihres Lebens an diesem eigentümlichen Ort, einer Gemeinschaft geführt von Frauen & belebt von Frauen, zugebracht haben. Inspiriert wurde Holmström, eine schwedischsprachige Autorin aus Finnland, dabei von Jutta Ahlbeck-Rehns Dissertation. Diagnose und Disziplin: medizinischer Diskurs und weiblicher Wahnsinn im Krankenhaus Själö 1889-1944

Da ist die auffällig schöne Kristina, die Anfang Zwanzig, allein gelassen von Mann, Familie & Kirche mit zwei kleinen, fordernden Kindern & ihrer Anstellung als Magd, um ihr aller Überleben zu sichern, in einer Herbstnacht 1891 aus lauter Müdigkeit & Verzweiflung ihre schlafenden Kinder dem Meer übergibt. Anstatt für sechs Jahre ins Zuchthaus zu gehen, wird sie auf Anraten eines Jugendfreundes, eines evangelischen Pfarrers, in die neu eingerichtete Frauennervenheilanstalt nach Själö gebracht.

Da ist Iris, 17 Jahre alt, die Jahrzehnte nach Kristina, die zu dem Zeitpunkt schon eine in sich eingeschlossene, stumme, alte Frau ist, von der die Mitpatientinnen nur noch als die Kindsmörderin sprechen, mit dem Einverständnis ihres Bürgerlichen Eltern dort eingeliefert wird. Sie, die sich nichts mehr als die Liebe ihrer Mutter wünscht, buhlt verzweifelt um Aufmerksamkeit, ist renitent, rebelliert, verliebt sich, stößt den Falschen zurück, der sich perfide rächt, wird beschuldigt & aus gesellschaftlichem Kalkül „verstecken“ ihre Eltern sie auf Själö.

Und da ist Sigrid, die junge, engagierte & gut ausgebildete Krankenschwester, die sich, wenige Jahre vor Iris Einlieferung, freiwillig diesen Ort ausgesucht hat, weil sie daran glaubt hier etwas Sinnvolles zu tun. Während ihr Verlobter studiert, geht sie auf in der strengen aber herzlichen Zuwendung zu ihren Patientinnen. Als ihr eine leidenschaftliche Nacht & der große Krieg ihre Zukunftspläne zunichte machen, ist es die Gemeinschaft der Frauen von Själö, die sie auffängt.

Kristinas Mutter fasst die Gefahren eines Frauenlebens wie folgt zusammen:

Manchmal glaube ich, dass es ein Unglück ist, als Frau zur Welt zu kommen. Körperlich schwach, aber gleichzeitig eine Verlockung für die Männer. So verlockend, dass es sie schwach im Kopf macht, aber wenn sie sich dann nehmen, was sie wollen, fehlen ihnen die Kräfte nicht. Dabei ist es ganz egal, wie stark eine Frau ist, denn ein Mann ist immer stärker, egal wie gut sie ist oder wie mutig oder wer sie ist und woher sie kommt. Es ist immer möglich, dass man sie zu Boden wirft und sie besteigt. Und dann kriecht sie im Dreck, die hohe ebenso wie die niedrige.“

Sehr geschickt beginnt Holmström ihren bildgewaltigen Roman mit einem Einblick in die Geschichte der Psychiatrie. Sie schildert ein gruselig anmutendes Verfahren, das der französische Hofarzt des Königs & Hochschulprofessor in Montpellier Pierre Pommes (1735-1812) zur Kur der Hysterie (siehe: Pomme, Pierre & John BerkenhoutTreatise on Hysterical and Hypochondriacal Diseases. In Which a New and Rational Theory Is Proposed, and a … Cure Recommended … Nabu Press, Neuauflage 2010) einsetzte: das Kältebad. Dazu wurde eine Probandin systematisch über 10 Monate täglich über Stunden in eine Wanne mit eiskaltem Wasser gesetzt, was dazu führte, dass sich ihre Haut, aber auch ihre inneren Organe ablösten & abgingen. Stolz vermeldet er seinen Erfolg: Heilung der Hysterie, wenn auch mit Todesfolge für seine Patientin.

Als kluge Autorin unterläuft Hallström die Lesererwartungen, denn ihre fesselnde Schauergeschichte ist eine wenige offensichtliche, weniger laute, obwohl letzteres natürlich nur im übertragende.Sinne zutrifft, eine psychiatrisches Krankenhaus ohne ruhig stellendes Psychopharmaka war alles andere als ein Haus der Stille.

In beeindruckend Weise wechselt sie zwischen poetischen Landschaftsbeschreibungen, archaischen Gewaltdarstellungen & eindringlichen Beziehungsdarstellungen, wobei die Adjektive untereinander austauschbar sind.

Mit viel Empathie für ihre Figuren zeichnet Holmström diese Frauenwelt, in der Männer nur Nebenrolle einnehmen, meist durch Abwesenheit glänzen, deshalb aber nicht weniger nachhaltig Einfluss nehmen, als abwesende Väter & Liebhaber, als übergriffige Fremde, als mitleidlose Kirchenvertreter, als Ärzte, die nur stundenweise vorbeischaun, & deren Interesse in Vermessungen & Skalierungen liegt, als Politiker, die die gesellschaftlichen Regeln & Konventionen aufstellen, die diese Frauen nicht genügen konnten.

Aufmerksam gelesen ist Själö ein aktueller, emanzipatorischer Roman, der darauf hinweist, dass es in der Geschichte immer die Männer waren & sind, die Frauen ihren Platz in der Gesellschaft zuweisen & das weibliche Solidarität das beste Mittel ist, dem zu begegnen.

Vielleicht ist Holmströms Själö etwas zu romantisiert & endet zu versöhnlich, doch allen voran sind die eindrucksvollen Frauenschicksale Mahnung & Ansporn im Kampf für Frauenrechte nie nachzulassen.


Johanna Holmström: Die Frauen von Själö. Ullstein Verlag. 2019

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