„Im Alter von vierzig Jahren wurde Dr. Weiss klar, dass die Literatur ihr Leben ruiniert hatte.“
Ich liebe, liebe gute erste Sätze, das teile ich mit dem leider schon verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki & dieser erste Satz hier, aus dem 2018 erstmals auf Deutsch erschienen Debutroman Ein Start ins Leben von der wirklichen fabelhaften Anita Brooks, ist einfach wunderbar geistreich. Was soll ich sagen, schon allein dafür „cheerleade“ ich dieses Buch.
Dr. Ruth Weiss, Literaturwissenschaftlerin, die über Balzacs Heldinnenkosmos forscht (übrigens einer der ersten Schriftsteller, der sich der Frauenfigur ab 30 gewidmet hat), einziges Kind ihrer doch recht exzentrischen Eltern, hat schon früh gelernt sich selbst nicht so wichtig & die Nichtachtung ihrer naiven Eltern nicht all zu persönlich zu nehmen. Sie ist sich selbst genug.
Als braves Mädchen laviert sie zwischen der kapriziösen Frau Mama, der ehemals begehrenswerten Helen, einer alternden, britischen Schauspielerin mit abnehmenden Rollenangebot & Appetit auf feste Nahrung, die ihre Familie aus dem Bett heraus traktiert & einem eitlen, dandyhaften Vater, Buchhändler qua Erbmasse, der seinen Charme lieber aushäusig versprüht & seine Frau, wie banal, mit seiner jungen Assistentin betrügt. So lange die deutsche Großmutter das ganze mit preußischem Habitus in ihrem gutshausähnlichem Mooreiche-Ambiente zusammenhält, kann Ruth ihr altkluges, zu frühes Kindererwachsenenleben leben & das Ganze mit einer Art amusierten Distanz beobachten, doch als nach ihrem Tod, die arbeitsunwillige Haushälterin zur Rasputin-gleichen Einflüstererin an Mamas Bett wird, gestaltet sich Ruths Leben immer komplizierter.
Und doch nutzt sie die Gelegenheit zum Studium nach Paris zu gehen & dort, wie es sich für eine junge, brave Ausländerin in der Stadt der Liebe nun einmal gehört, hat sie Affairen, mit einem verheirateten Mann, mit einem jungen & einem alten, keine rauschenden, aber etwas, was als Erinnerung taugt, eine Liebe mit einem Mann, der sie nicht zurückliebt, aber diese Frau hat jung gelernt, das das Leben so spielt, als das so etwas Banales sie umbringt.
Was bleibt ist der Zweifel. Warum ist für sie Paris kein Fest der Liebe? Wo ist der Herzschmerz, die Leidenschaft, wo die großen Gefühle? Wo die Schmetterlinge, die rosaroten Wolkenmacht? Was stimmt mit nicht mit ihr?
Mit zunehmenden Alter, eine kluge, attraktive, erfolgreiche Frau, hinterfragt sie, ob ihre Lebensentscheidung, ein Leben als Blaustrumpf, wie ihre Mutter es wenig schmeichelhaft ausdrückte, ein Leben als anerkannte Balzac-Gelehrte es wert waren? Den Verzicht auf dieses andere Leben, das doch die meisten Frauen führen. Ein Ehemann, ein Heim Kinder, also ein Leben als Ehefrau, Hausfrau, Mutter? Sie weiß, dass das auch das Verzicht bedeutet hätte.
Ihre kritische Selbstbefragung ist weit entfernt von selbstmitleidig, oder gar weinerlich, im Bewusstsein, dass sie sich rasant der „Hölle der Frauen“ nähert, wie Balzac es so charmant nennt, blickt sie zurück & rekapituliert, das tut sie immer mit dieser scharfzüngigen Selbstironie, dem Rettungsanker eines jeden klugen Menschen.
Ein höchst emanzipierter, unsentimentaler Blick auf die Welt, den Anita Brooks (1928-2016), eine emeritierte Kunstgeschichtsprofessorin in Cambridge, mit ihrem Erstling 1985 vorlegte, auf den dann auch noch über 20 weitere Romane & die Auszeichnung ihrer literarischen Arbeit mit dem Booker Prize, den wichtigsten britischen Literaturpreis, folgten.
Ein bitterböser, charmanter, amusanter Roman, der nie langweilt. Ruths Lebensgeschichte beweist, mit Literatur wird jedes Leben zu einem Fest.
Anita Brookner: Ein Start ins Leben. aus dem Englischen übersetzt von Wibke Kuhn. Eisele Verlag. 2018