Mr Irwing, bitte übernehmen Sie!

Der Schweizer Autor, Joel Dicker, der hochgelobte Stern am französischen „roman policier“-Himmel, für Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, legt mit Das Verschwinden der Stephanie Mailer seinen neusten Roman, nun auch auf Deutsch, vor. Die französische Kritik schwärmt in den höchsten Tönen & ich bin etwas weniger euphorisch.

Dicker sagt angesichts seiner Verkaufszahlen ganz bescheiden über seine Bücher: „Ich schlage eine Geschichte vor, aber diese Geschichte existiert nur, wenn ein Leser sie sich auch vorstellen kann, die Figuren, die Dialoge.“

Ich muss sagen: „Monsieur Dicker, je suis terriblement désolée, mais cette histoire n’exciste pas!“

Mir mangelt es gemeinhin nicht an Vorstellungsvermögen, ich kann mir so gar ne ganze Menge vorstellen, im Leben allgemein & in der Literatur im besonderen: die ungewöhnlichsten Figuren & die absurdesten Dialoge, aber bei diesem hier Personalaufgebot musste ich passen.

Am Anfang dachte ich noch die Überzeichnung einzelner Figuren wäre ein Stilmittel, aber sehr bald hatte Dicker eine ganze Schaubühne besonderer Charaktere versammelt, die John Irwing sicherlich mit Freude für seinen nächsten Roman übernehmen könnte. Nur, wo eigenartige Charaktere bei jmd. wie Irwing ins eigenartige Irwing Universum passen, wirken diese vor wenigen Leseminuten noch der Rollenerwartung nach völlig „normal“ agierende Charaktere hier, in dieser spießigen, normalen Kleinstadtwelt in den Hamptons, in der der Kriminalroman spielt, unecht, wie Aliens.

Aber vielleicht erst einmal zum Plot.

Während am 31.7.1994 der stellvertretende Bürgermeisters des beschaulichen Ortes Orphea, ein Ort im Staat New York, erstmalig das neu Theaterfestivals eröffnet, wird im Haus des Bürgermeisters, er selbst, sein kleiner Sohn & seine Ehefrau erschossen, so wie eine vor seinem Haus vorbeikommende Joggerin.

Die Leitung der Ermittlungen des Vierfachmordes übernehmen die beiden befreundeten, noch sehr jungen, aber ambitionierten Kriminalpolizisten Derek Scott und Jesse Rosenberg. Es gelingt ihnen durch zähes Beweise sammeln den vermeintlichen Mörder zu ermitteln, der aber beim Versuch ihn zu verhaften, stirbt. Knapp 20 Jahre später, zu Beginn des Sommers 2014, Rosenberg, der als 100%, als exzellenter Ermittler, gilt, steht kurz vor seiner freiwilligen Pensionierung, als die junge, nicht minder ehrgeizige Journalistin des Orphea Chronicle, Stephanie Mailer, ihm bei seiner offiziellen Abschiedsfeier mit dem nebulösen Hinweis überfällt, damals einen Fehler gemacht zu haben & den Falschen für schuldig befunden zu haben. Danach ist sie wie vom Erdboden verschwunden. Aus Rosenbergs persönlichen Interesse an weiteren Informationen zu ihrem Vorwurf wird schnell ein offizieller Vermisstenfall, bei dessen Aufklärung nach anfänglichem zögern ihn Scott, der seit 1994 nicht mehr im Außeneinsatz arbeitet, unterstützt.

Sie ermitteln dazu auch in Orphea, wo nicht nur in nur wenigen Wochen das 20 jährige Jubileeum des Theaterfestivals groß gefeiert werden soll, sondern auch noch viele der vom damaligen Verbrecher direkt oder indirekt Betroffene leben. Als unterstützende Kraft vor Ort wird den beiden Männern eine ehrgeizige Polizistin mit Juraabschluss zugewiesen, die vor weniger Jahren, nach ihrer Scheidung nach Orphea gezogen ist, um auf Wunsch des Bürgermeisters den dortigen Polizeichef zu beerben.

Schnell erkennen das sich perfekt ergänzende Trio, dass es eine Verbindung zwischen Stephanies Verschwinden & den Morden von 1994 gibt & rollen den alten Fall neu auf, was zu weiteren Toten führt.

Wie Dicker diese zwei fast old-schooled Geschichten, die alten Morden von 1994 & die Ermittlungen von 2014 erzählt, finde ich sehr gekonnt. Er bedient sich verschiedenster Perspektiven, setzt auf schnelle szenischer Wechsel, springt zwischen Zeit & Raum, das hat was Filmisches & ist sehr modern. Dieser Kontrast empfinde ich als sehr attraktiv. Hinzu kommt der Erzählton. Von Anfang an, fand ich das der etwas sehr Eigenes hatte, eine Melodie, die aus der immensen Fülle an Krimalromanen herausragt, was mich letztendlich auch trotz des Figurenschlamassels bei der Lesestange hielt.

Ich werde mir jetzt auf jeden Fall mal seine vorherigen Bücher näher ansehen & hoffe, dass ihm beim nächsten Roman jemand bei der Figurenentwicklung rechtzeitig auf die Finger haut. Ich biete auch an, das zu übernehmen.


Joël Dicker Dicker: Das Verschwinden der Stephanie Mailer. aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma. Piper Verlag. 2019

Ich danke dem Piper Verlag für das Rezensionsexemplar.

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