Es gibt gleich am Anfang des Debütromans Fische der amerikanischen Autorin Melissa Broder eine Szene, die so viel Komik und Wahrheit über Beziehungen enthält, dass man sie bis zum letzten Kapitel nicht mehr vergisst. Es ist jene Initialszene, in der sich das Verhältnis der 38-jährigen Protagonistin Lucy, einer scheiternden Doktorandin aus Arizona, zu ihrem langjährigen Freund Jamie radikal verändert.
Die Vorgeschichte geht so: Die Beziehung zwischen Lucy und Jamie ist in die Jahre gekommen. Jamie hat sich mittlerweile ein Fettpolster angefressen und ein Doppelkinn entwickelt, sodass Lucy nicht mehr von „ihm“, ihrem Freund, spricht, sondern vom „Es“, dem Doppelkinn. Als beide ermattet auf der Couch liegen, brennen bei Lucy die Sicherungen durch. Sie macht einen Vorschlag, der in Wahrheit nicht ganz ernst gemeint ist: „Vielleicht sollten wir uns trennen“, sagt sie selbstsicher. Der Satz fällt nebenbei, ganz salopp. Es ist eine kleine Stichelei, höchstens eine Provokation. Lucy erwartet von ihrem moppeligen Doppelkinn einen erstaunten Gesichtsausdruck und eine wütende Reaktion wie „Auf gar keinen Fall!“ oder „Bist du verrückt?“. Doch stattdessen bekommt sie als Antwort: „Ja, ich glaube, du hast recht.“
Rums. Eine Welt bricht zusammen. Und zugleich vollzieht sich ein Bewusstseinswandel, der Lucys Wahrnehmung ihres alten, langweiligen Lebens neu justiert. Plötzlich mutiert das „Es“ wieder zum „Er“ und damit zur begehrenswerten Person: „Und mit einem Mal war das Doppelkinn verschwunden, und ich sah breite Schultern und strahlend blaue Augen. Wenn sein Bauch beim Ficken gegen meinen klatschte, hatte ich oft versucht, mich nur auf seine Augen zu konzentrieren und die Magie unserer ersten Begegnung heraufzubeschwören; jetzt sah ich plötzlich nichts anderes mehr.
Doch der Wandel kommt zu spät, die Worte sind gesprochen. Das heißt: Jamie haut ab und sucht sich eine neue Freundin. Lucy wiederum erlebt einen Schmerz, der sie nahezu um den Verstand bringt. Und genau um diesen Schmerz geht es in diesem Buch. Den Schmerz und die Liebe als Füllstoff für eine Leere, die Melissa Broder als dezidiert weibliche (und dann doch allzu menschliche) Problematik beschreibt. Nach dem Desaster flüchtet die Protagonistin zu ihrer Schwester ins kalifornische Venice Beach. Sie will sich ablenken, eine Therapie beginnen und jede Menge Männer kennenlernen. Lucy wirft die Dating-App Tinder an und trifft sich in Hoteltoiletten mit diversen Surfer-Boys zum Hardcore-Sex; lässt sich begrabschen, befummeln und besteigen; glaubt nur im orgiastischen Wahn ihr eingerostetes Selbstwertgefühl aufzupeppen. Die Resultate fallen, wie man sich denken kann, ziemlich traurig aus.
Melissa Broders Sprache ist derb, die Handlung schnörkellos. Um Erotik geht es aber nur nebenbei. Zentral ist vor allem Lucys Sucht nach Anerkennung und die Hoffnung auf eine bedingungslose, nie enden wollende Liebe voller Sehnsucht und Leidenschaft. Lucy kommt diesem Gefühl paradoxerweise (oder vielleicht gerade deshalb) am nächsten, als der Roman ins Fantastische kippt: Die Protagonistin trifft an den Klippen der Küste von Venice Beach einen Surfer, der sich, nun ja, als Fabelwesen entpuppt, als männliche Nymphe mit Fischschwanz. Daraus resultiert eine Liebesbeziehung, die zwischen Fantasie und Realität mäandert und in jenem Moment ihre volle Kraft entfaltet, als klar wird, dass die zwei niemals ein Paar sein und profane Chips-Abende auf der Couch erleben können, sondern immer eine infame Unmöglichkeit bleiben werden. Die Liebe zum Meermann steht für die Essenz der Liebe als unerreichbares Gefühl, das dem Normalitätsgedanken mit all seinen Kräften widerspricht.
Um nicht missverstanden zu werden: Dieses Debüt würde fast in die Kategorie eines trivialen Sexromans fallen, wenn Broders hemmungslose Beschreibungssucht nicht immer wieder auf etwas viel Grundsätzlicheres verweisen würde, nämlich auf die Frage nach den Fundamenten des menschlichen Glücks. Die Penetrationsorgien sind eigentlich nur ein Ventil für Lucys Wut über ihre innere Leere und ihre eigene Sterblichkeit – und die Erkenntnis, dass auch die Liebe am Tod nichts ändern wird.
Melissa Broder ist in den USA vor allem durch ihre Tweets berühmt geworden, die von ihren Depressionen, Minderwertigkeitskomplexen, Panikattacken, ihrer übersensiblen Haltung zur Welt, ihrer Sexualität und ihren Männergeschichten handeln. Daraufhin hat sie einen Buchvertrag für einen fantastischen Essay-Band bekommen (So Sad Today, erschienen 2016) und nun für dieses Debüt, das jetzt schon in den USA eine Sensation ist.
Außerdem ist Melissa Broder Feministin. Sie schreibt regelmäßig für Lena Dunhams Newsletter Lenny Letter. In ihrem Roman jedoch paart sich der Feminismus mit einem geschlechtsübergreifenden Leiden an der Leere des Lebens. Auf den Roman angewandt: Lucy geht im Orgiastischen der Frage nach, warum sie nie wirklich glücklich geworden ist in ihren immerzu ins Mittelmäßige kippenden Beziehungen; warum sie lieber nach Verletzungen, nach Schmerz, nach Enttäuschungen sucht. „Ja, anscheinend“, schreibt Melissa Broder, „lag es in der menschlichen Natur, sich an einem anderen Wesen zu berauschen, die Welt künstlich interessant zu machen, sich vom eigenen Ich zu entlasten, vom eigenen Leben, und sei es nur für einen Moment.“ Das spüren Männer wie Frauen. Insofern ist dieses Debüt, hinter all der weiblichen Selbstkasteiung, ein moderner, egalitärer und vor allem: ein ungemein emanzipierter Roman.
Melissa Broder: Fische. Roman; a. d. amerik. Engl. v. Eva Bonné; Ullstein Verlag, Berlin 2018; 352 S., 21,– €, als E-Book 18,99 €